Elementarkenntnisse statt Unwissenheit: Was Schwimmen mit Lesen, Schreiben, Rechnen und Programmieren verbindet

Im Meer der Digitalisierung lernen immer weniger Menschen die Kulturtechnik des Schwimmens. Sie wird auch nicht eingefordert wie beispielsweise das Programmieren, das heute den gleichen Stellenwert wie Lesen, Schreiben und Rechnen in der Schule haben sollte. Dabei ist diese bedeutende Kulturleistung (über)lebensnotwendig. Es kostete die westliche Zivilisation Zeit, Ausdauer, Energie und Mut, eine nachhaltige Schwimm- und Wasserkultur zu entwickeln. Dabei waren Denk-, Urteils- und Schwimmfähigkeit stets miteinander verbunden. Was nützen uns digitale Kenntnisse, wenn wir dies nicht mehr haben?

Die Schwimmfähigkeit geht hier immer mehr zurück

Schon bei Platon gehört das Schwimmen zu den Elementarkenntnissen, das er mit dem Lesen auf eine Stufe stellt: Unwissende sind jene, „die weder schreiben noch schwimmen können“ (Die Gesetze, III, 689). Wenn es so weitergeht, ist Deutschland bald nicht nur ein Land der Nichtschwimmer, sondern auch der Ungebildeten. Die Schwimmfähigkeit geht hier immer mehr zurück – die Hälfte aller Zehnjährigen in Deutschland kann angeblich nicht schwimmen. Nur noch 40 Prozent der Sechs- bis Zehnjährigen schaffen den Dreischwimmer. Jährlich ertrinken mehr als 400 Menschen in Deutschland, darunter viele Kinder. Heiko Mählmann, Präsident der Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft (DLRG), verweist darauf, dass Schwimmen lernen ein „Grundrecht von Kindern, ebenso wie lesen und schreiben“ sein sollte.

Jedes zehnte Schwimmbad wurde in Deutschland geschlossen

20 bis 25 Prozent aller Grundschulen können keinen Schwimmunterricht mehr anbieten, denn ein Viertel von ihnen hat keinen Zugang zu einem öffentlichen Schwimmbad. In den vergangenen 18 Jahren ist hier jedes zehnte Schwimmbad in Deutschland geschlossen wurden, wie aus einer Recherche der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) hervorgeht.

Franziska van Almsick
„Immer häufiger fällt der Schwimm-Unterricht an den Grundschulen aus oder wird erst ab der dritten Klasse unterrichtet. Oft fehlt es an Fachkräften oder der Weg ins Schwimmbad ist zu weit“, sagt die ehemalige deutsche Schwimmerin und mehrfache Welt- und Europameisterin Franziska von Almsick. Diese beunruhigende Entwicklung hat mittlerweile dazu geführt, dass fast jeder zweite Drittklässler nicht sicher schwimmen kann. Sie fühlt sich verpflichtet, etwas zu unternehmen, um möglichst vielen Kindern die Möglichkeit zu bieten, schwimmen zu lernen.
Ihre Stiftung hat sich das Ziel gesetzt, dass jedes Kind am Ende seiner Grundschulzeit mindestens eine Schwimmart sauber beherrscht und so mehr Freude und Sicherheit im Wasser hat. Es ist wichtig, sich aus der Lebensgefahr zu retten, wenn man „cyberkrank“ und „schiffsbrüchig“ wird, denn das Leben findet nicht nur in virtuellen Welten statt, sondern auch draußen.

Das „Scheitern“ sollte dabei vertiefend betrachtet werden

Dabei ist ein Blick auf die sprachhistorische Herkunft des Begriffs hilfreich: So waren zuerst die zerbrochenen Holzscheite (althochdeutsch scît), Planken des Schiffsrumpfes, die in Brüche gingen und ein Schiff zum „Scheitern“ brachten. Erst im 17. und 18. Jahrhundert wurde der Terminus im übertragenen Sinn allgemein gebräuchlich – für das Scheitern der eigenen Pläne und Hoffnungen. Ähnlich verbindet das spanische fracasar die metaphorische Bedeutung „Schiffbruch erleiden“ mit dem späteren „Misslingen“. Schmerz, Leid und Schiffbruch wurden dann in unserer Kultur mit Schwachsein gleichgesetzt (Arno Gruen: „Dem Leben entfremdet“).

Eine Gesellschaft erleidet Schiffbruch, wenn sie diese Kultur vernachlässigt

Spaß und Wellness haben nichts mit Können zu tun. Das Schwimmen ist in den wenigen Freibädern, die es heute gibt, zum Massenvergnügen geworden. „Vor allem aber ist das Glück im Freibad das der Erinnerung. An den Moment, als man das Freischwimmer-Abzeichen an die Badehose genäht bekommt“, schreibt der Journalist Gerhard Matzig, für den die Wellnessisierung der Freibäder und Aquaparks eine große Killerwelle geworden ist: „Früher ging man schwimmen, heute geht der Trend zum Erlebnis.“ Neben dem Verlust öffentlicher Schwimmbäder sind auch Spaßbadkultur und familiäre Überbehütung nicht zuletzt der Grund dafür, dass eine Generation von Nichtschwimmern hervorgebracht wurde.

Der Schein ist auch hier wichtiger als das Sein

Neil Shubin
In Amerika entstehen die opulentesten Swimmingpools, die vor allem Wohlstand symbolisieren und als moderne Prestigeobjekte kaum zum Schwimmen dienen. Der Schein ist auch hier wichtiger als das Sein. Dabei ist es gerade im Wasser zu finden. Das deutsche Wort „Seele“ kommt von „See“ und weist auf das Tiefe, Abgründige und Geheimnisvolle. Dass unsere emotionale Nähe zum Wasser tief in unserem Unbewussten angelegt ist, bemerkt auch der Meeresbiologe Wallace Nichols in seinem Buch „Blue Mind“. Auch der Evolutionsbiologe Neil Shubin verweist auf die magische Anziehung und unsere natürliche Affinität zum Wasser, denn wir haben 40 Wochen lang im warmen Fruchtwasser verbracht.

Verabredung mit sich selbst: Schreiben und Schwimmen

Paul Biedermann
Wie Schreiben sei das Langstreckenschwimmen eine „monomane Angelegenheit, eine Verabredung nur mit sich selbst“, sagt der Schriftsteller und Schwimmer John von Düffel. Kein Mensch sagt, wann man fertig ist – das muss allein entschieden und zu Ende gebracht werden.
Der nach Freiheit dürstende Schwimmer wird in den wenigen städtischen Schwimmbädern allerdings durch tobende Kinder und „dahindümpelnde Duftbojen“ (die nach Siebenundvierzigelf riechenden Mitschwimmerinnen) verschreckt. Der echte Schwimmer braucht Weite und muss allein sein.
Vielleicht empfinden deshalb viele Menschen das Schwimmen auch als Meditation. „Du bist ganz bei dir.“, sagt der Schwimmer Paul Biedermann, der im Sommer 2009 bei der WM in Rom zwei Goldmedaillen gewann und Michael Phelps, den erfolgreichsten Olympioniken der Geschichte, besiegte.

Losgelöst vom täglichen Leben

Franz Kafka
„Wie Opium kann Schwimmen ein Gefühl der Distanz zum gewöhnlichen Leben hervorrufen“, beobachtet Charles Sprawson, der den Schwimmer als einen Menschen sieht, „der seine Bahnen fern und losgelöst vom täglichen Leben zieht. Für ihn ist das ein Grund, warum vor allem Exzentriker und Introvertierte das Schwimmen so sehr lieben. Franz Kafka notierte am 2. August 1914: „Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt – Nachmittags Schwimmschule.“ Das war ein Flussbad am Moldauufer, wo er das Schwimmen als archaische Erfahrung erlebte.
Auch der französische Lyriker, Philosoph und Essayist Paul Valéry gab sich so oft wie möglich dieser einzigen körperlichen Betätigung hin, die er lebenslang praktizierte und auf die er niemals verzichten wollte. Damit verbunden war für ihn „sich regen in der Bewegung, tätig sein bis in die Zehen hinunter, sich wenden in dieser reinen und tiefen Masse, bitteres Wasser trinken und ausstoßen, das frisch und will an der Oberfläche ist, ruhig in der Tiefe!“ Dies empfand er als göttliches Spiel voller Zeichen und Kräfte.

Hier konnte sich sein ganzer Körper hingeben und sich erschöpfen

Durch das Wasser wurde sein Körper „das unmittelbare Instrument des Geistes“, ja es bildete seinen Geist und erleuchtete ihn. Schwimmen weckte in ihm andere Sinne und Neigungen: „Die Welle saugt mich, leckt mir die Haut bis zur Sehne! Ich lebe anderswo!“ Er spricht sogar von einer „fornication avec l’onde“, der Unzucht mit der Welle. Valéry glaubte, sich wiederzuerkennen, wenn er ins allumfassende Wasser tauchte. Hier war er der Mann, der er sein wollte. Erst durch das Wasser wurde sein Körper „das unmittelbare Instrument des Geistes“. Sein Geist wurde hier gebildet.
Teil 1 von 2
1. Teil: Elementarkenntnisse statt Unwissenheit: Was Schwimmen mit Lesen, Schreiben, Rechnen und Programmieren verbindet
2. Teil: Ohne die Kulturtechnik des Schwimmens wird es dem Volk der Dichter und Denker an Geist und Tiefgang fehlen


Copyright Steffi Henn
Dr. Alexandra Hildebrandt, © Steffi Henn
Autorin Dr. Alexandra Hildebrandt ist Nachhaltigkeitsexpertin und Wirtschaftspsychologin. Sie studierte Literaturwissenschaft, Psychologie und Buchwissenschaft. Anschließend war sie viele Jahre in oberen Führungspositionen der Wirtschaft tätig. Bis 2009 arbeitete sie als Leiterin Gesellschaftspolitik und Kommunikation bei der KarstadtQuelle AG (Arcandor). Beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) war sie von 2010 bis 2013 Mitglied der DFB-Kommission Nachhaltigkeit. Den Deutschen Industrie- und Handelskammertag unterstützte sie bei der Konzeption und Durchführung des Zertifikatslehrgangs „CSR-Manager (IHK)“. Alexandra Hildebrandt ist Sachbuchautorin, Hochschuldozentin, Herausgeberin und Mitinitiatorin der Initiative www.gesichter-der-nachhaltigkeit.de. Sie bloggt regelmäßig für die Huffington Post zu Nachhaltigkeitsthemen und ist Co-Publisherin der Zeitschrift „REVUE. Magazine for the Next Society”. Dr. Alexandra Hildebrandt bei Twitter.

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