Die Wiederentdeckung des Gehens
Ob aus der Not geboren eine alte Tugend wiederentdeckt wird? Offenkundig haben viele Menschen während der Pandemie das Spazierengehen für sich (wieder) entdeckt. Wer kaum noch aus dem Haus kommt, weil er im Home-Office sitzt oder Home-Schooling machen muss, wer keine Freunde treffen darf und auch nicht mehr in den Verein gehen kann, der ergreift irgendwann die Flucht. „Einfach mal vor die Tür gehen.“, heißt es dann. Und es begann für viele eine überraschende Entdeckungsreise.
„Das Flanieren erscheint als Anachronismus in einer Welt, in der der eilende Mensch regiert.“
Dem ambitionsfreien Gehen, ziellosem Schlendern oder Flanieren haftet etwas Anrüchiges an. Es wirkt auf Beobachter verschwenderisch und snobistisch. „Die Zeit hätte ich gern“ murmeln neidische Hackentreter vor sich hin, wenn sie mit ihrem klaren Ziel vor Augen ein flottes Tempo gehen und auf solche daher trottenden, sie behindernde Individuen treffen. Dass die Spazierenden keineswegs nur Touristen, saturierte Privatiers oder verschrobene Einzelgänger sind, sondern auch Rebellen und Trendsetter sein könnten, käme ihnen nie in den Sinn.
Würden wir uns öfter mal die Zeit zum entspannten Gehen nehmen und könnten wir darüber sinnieren, dass das Gehen nicht nur eine, vielleicht sogar die entscheidende evolutionäre Entwicklung zum modernen Menschen war, sondern dieses Gehen auch ein unglaublich kreatives Potential freisetzte. Und daraus könnten wir heute noch schöpfen. Ja, könnten! Leider haben wir aber in den vergangenen Jahrzehnten alles darangesetzt, das Gehen zu vermeiden. Einerseits wollen wir immer schneller von A nach B kommen und anderseits wollen wir dabei sicher sitzen, um uns wichtigeren Aufgaben zu widmen als dem Nachdenken.
Sind wir nicht auch im Sitzen nachdenklich und kreativ? Sicher, doch meist sind wir dabei abgelenkt, angespannt oder monothematisch fixiert. Das Schweifen der Gedanken, das Sortieren von Ideen, überraschende Impulse und die Entdeckung von Unerwartetem sind weder bei der modernen Immobilität noch bei der rasanten Mobilität so möglich, wie bei der natürlichsten und ursprünglichsten Form der menschlichen Bewegung. Das zweckfreie Spazieren steht dem Yoga oder Meditieren in mentaler Hinsicht in nichts nach. Dazu noch einmal Le Breton:
„Das Gehen führt in die Wahrnehmung der Welt ein, es ist eine Erfahrung, die dem Menschen die Initiative überlässt. … Man geht ohne Grund, aus Freude daran, die vergehende Zeit zu genießen, um einen Umweg zu machen, damit man sich am Ende des Weges wiederfindet, um unbekannte Orte und Gesichter zu entdecken, durch den Körper sein Wissen über eine unerschöpfliche Welt von Sinn und Sinnlichkeit zu erweitern, oder einfach nur, weil der Weg eben da ist.“ Und dann:
„Das Gehen ist eine stille Methode der Wiederverzauberung von Zeit und Raum.“
Auch die moderne Rehabilitierung des Gehens in freizeitlicher Form des Wanderns oder Nordic Walkings begrenzt das eigentliche Potential. Denn hier steht immer der Leistungszweck im Vordergrund, der Gedanke, sich mal auspowern zu müssen, seine müden Glieder mal wieder zu fordern. Die Quantität, gemessen in Schritten oder Kilometern, überwiegt dabei die mögliche Qualität, die sich durch innere Ruhe, Gelassenheit und Freude ausdrückt.
Was nun naheliegt, ist doch so fern: Schreib doch mal eine Anleitung zum Gehen. Nichts wäre befremdlicher. Niemanden muss man anleiten, richtig zu gehen. So, wie man niemanden anleiten muss, richtig zu essen. Wenn letzteres auch zig Mal heute geschrieben und gelesen wird, so ist es dennoch Unfug. Denn jeder weiß, er muss nur seine Haltung zum Essen wie auch zum Gehen ändern, dann ergibt sich alles andere wie von selbst. Dann würden wir vielleicht auch zum Essen wieder öfter sitzen und zum Verdauen wieder öfter gehen und nicht umgekehrt.
Schöne Beispiele dazu findet man aktuell im Netz. Da ist zum einen Nicola Wessinghage mit ihrem Podcast-Projekt Lob des Gehens. In den bislang acht Folgen unterhält sie sich mit interessanten Zeitgenossen, die alle einen besonderen Blick auf das Gehen haben, mal naturwissenschaftlich, mal soziologisch, mal persönlich. Zuletzt sprach sie z.B. mit Wibke Ladwig, einer freiberuflichen Social-Media-Expertin aus Köln. Ihre tägliche Routine ist für alle, die die Pandemie plötzlich ins Home-Office gesperrt hat, ein bedenkenswerter Tipp.
Wibke spricht von einer Transformation am Morgen, wenn sie ihr Zuhause verlässt, um einen einstündigen Spaziergang durch ihr Viertel anzutreten bis sie dann an den Ausgangsort zurückkehrt. Doch dieser hat sich nun gewandelt und ist nun das Office, das sie betritt. Dieses Ritual ist genial für alle, die die Trennung von Heim und Office vermissen. Im wahrsten Sinne des Wortes schafft man so am Morgen eine deutliche Distanz zwischen Privat und Arbeit und zahlt auch noch positiv auf das Work-Life-Balance Konto ein.
Ein weiterer Beitrag, der zu diesem hier inspirierte und auf das Podcast-Projekt aufmerksam machte, findet sich auf dem Blogmagazin WOMZ. Danke dahin.
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