Weihnachten und das müde Glück.

Vor einem Jahr erschien in der Huffington Post der Beitrag: Erst gegeben, dann genommen: Was uns die Geschichte von Hiob heute zu sagen hat. Zu diesem Zeitpunkt lebte der schwer an Krebs erkrankte Publizist Roger Willemsen noch. Im Februar 2020 starb er, 60 Jahre alt. Sein Vermächtnis umfasst ebenfalls knapp 60 Buchseiten.
Die Essenz eines Augenblicks, eines Jahres oder eines Lebens
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, sein Vermächtnis mit dem Text des vergangenen Jahres zu verbinden, denn beides gehört zusammen und sagt auch viel über uns selbst aus und die Macht des Schicksals. Was hat die biblische Geschichte von Hiob, die zu den ergreifendsten Erzählungen der Menschheit gehört, heute mit uns zu tun? In ihr findet sich gebündelt die Essenz eines Augenblicks, eines Jahres oder eines Lebens. Hiobsbotschaften sind oft mit Schicksalsschlägen verbunden, die die Betroffenen als ungerecht empfinden. Wie Hiob, der immer gottgefällig lebte, aber plötzlich sein gesamtes Vermögen verloren hatte.
Gute Taten mit guten Folgen und schlechte Taten mit negativen Folgen?
Auch seine Kinder starben, und er wurde sehr krank. Seine festen Überzeugungen gerieten ins Wanken, denn es traf nicht ein, was er erwartet hatte: dass gute Taten mit guten Folgen und schlechte Taten mit negativen Folgen verbunden sind. Doch er fügte sich in sein Schicksal (es ist, wie es ist). Schon am Beginn seiner Lebenskatastrophe bekannte er: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat‘s genommen, der Name des Herrn sei gelobt.“ (Buch Hiob, Kap. 1, Vers 20)
In einigen Medien war 2020 zu lesen, dass Thomas Middelhoff, einst gefeierter Superstar unter Deutschlands Top-Managern, dem Boulevard anvertraut haben soll, dass er in der Haft ein Tagebuch geführt hat, das 700 Seiten umfassen soll und ebenfalls mit diesem Bibelzitat beginnt.
Im Uniklinikum Essen wurde er wegen einer seltenen Autoimmunerkrankung (Chilblain Lupus) behandelt, von der seine Anwälte sagten, dass sie sei dem permanenten Schlafentzug im Gefängnis geschuldet sei. Die “BamS” zeigte Middelhoff auf einem Foto mit geschwollenen, bläulich gefärbten Fingergelenken.
Pläne werden zunichte, wo man nicht miteinander berät


by E.T. Studhalter
Das müde Glück
Hiobs Geschichte ist mit einem gutes Ende verbunden: „Der Herr gab Hiob doppelt so viel, wie er gehabt hatte.“ Hiob wurde von „fortan mehr als einst“ gesegnet und starb „alt und lebenssatt“ (Sprüche 15, 22, Prediger 7, 16). Diese Stelle nimmt auch Roger Willemsen am Schluss seines Buches „Das müde Glück“ (mit Illustrationen von Kitty Kahane, Edition chrismon, 2012) auf: Der Alte verbeugte sich, „satt vom Leben, reich an Erfahrung“ – „ein Mensch, so schön wie ein Baum, der in allen Wettern gestanden hat“. Es ist ein Mensch wie jeder von uns, der nicht Middelhoff heißt, sondern einfach nur Hopp. Irgendwann fühlte er eine düstere Wolke heranrollen „mit schlechten Nachrichten in ihrem Bauch“.
Der Überbringer der Nachricht, dass er eigentlich Hiob und nicht Hopp heißt, war Herr Gottlieb. Jemand, der die Härte von Managern repräsentiert, die ihre weibliche Seite verdrängen: Er „stolziert hinaus in den Garten mit der Hoheit eines Mannes, der schon als Kind von Beruf Alleinherrscher werden wollte“. Ihm stellt Roger Willemsen Hopp/Hiob gegenüber, der am Rande der Stadt eine Manege aufgebaut hat: „Hopps Welt“. Ein Zirkus, der nicht wanderte, sondern blieb – eine Welt mit Tieren, Pflegern, Artisten, Clowns und einem Papagei, der sagen konnte: „Prost Gemeinde, der Vorstand ist besoffen!“.
Roger Willemsen zur Frankfurter Buchmesse über sein Kinderbuch zur Hiobsgeschichte „Das müde Glück“. Kinder sollen lernen mit Unglück umgehen zu können. ChrismonMagazin
Dass der Zirkus eine so wichtige Bedeutung im Buch und im Leben hat, mag damit zusammenhängen, dass hier niemand betrügt. Zirkusleute schwindeln nicht, sie können nicht so tun „als ob“, weil sie dann vom Hochseil fallen würden. Als Hopp/Hiob das Schicksal auf dem Boden trifft, tröstet ihn der Clown Pico: „Jetzt mal halblang. Du hast andere aufgerichtet, doch jetzt, da es dich trifft, kannst du dich selbst nicht aufrichten? Was glaubst du denn? Dass du das Glück bewohnen kannst wie ein Eigenheim? Das Unheil geschieht nicht in der weiten Welt allein, es kann auch in deiner passieren. Also verzweifle nicht, sondern finde eine Haltung.“
Du glaubst, weil du einen Bauch hast, wirst du nie hungern?
Noch unglücklicher machten ihn die Worte seiner Frau Helga: „Wenn es abwärts mit dir geht, wird ein anderer steigen. Bist du wichtiger als er? Hat er keine Kinder? Stehen nicht Tiere auch in anderen Ställen und möchten gestreichelt werden?“ Damit nicht genug: „Du glaubst, weil du einen Bauch hast, wirst du nie hungern? Du glaubst, wenn du ein Haus aus Steinen besitzt, können die Mauern nicht einstürzen und die Steine nicht zum Bau von neuen Häusern davongetragen werden? Du glaubst, wenn du ans Meer trittst, soll es nur glitzernd da liegen, sich aber nie erheben zu einer Welle, die alles wegschwemmt? Du träumst. Das ruhige Meer ist schön nur, weil wir wissen, es schläft, und sein Erwachen kann furchtbar sein!“
Trotz aller Rückschläge war Hiob davon überzeugt, dass es immer noch besser ist, wenn man teilweise wenigstens auch für andere lebt – auch wenn man selbst vom Glück nicht oder nur selten belohnt wird. Die Stimme aus dem Dunkel, die sich an ihn wendet, ist hörbar für alle, die vom Schicksal hart getroffen wurden. Sie spenden Trost und geben Hoffnung auch in hoffnungslosen Situationen: „Du hast deine Sache gut gemacht. Die Herren haben mit dir gelacht, als du stark warst. Die Traurigen haben sich erkannt in deiner Klage. Immer warst du, zu einem Teil deines Lebens, für alle da. Das war gut.“
Leben ist Überlebenskunst

© CARE/Christina Ihle
Als Roger Willemsen selbst an Krebs erkrankte, wollte nicht mehr unterhalten, sondern beobachten und präzise sagen, wie es ist. Ihn beschäftigten die blinde Flecken in der Beobachtung der Welt, ihres ökologischen und des gesamten Zustandes, aber auch des Bewusstseinszustandes. Er wollte sich nur Dingen widmen, die wirklich notwendig sind. Sich die Wirklichkeit vergegenwärtigen, sagte er oft.
„Nutzt Eure Möglichkeiten!“
Um die Grundprobleme unserer Zeit zu erkennen und zu lösen, braucht es ein Denken, das die Praxis nicht vernachlässigt. Genauso wichtig ist es, zukünftige Handlungen und Einstellungen zu berücksichtigen. „Als brauchten wir zum Handeln einen neuen Klimabericht, einen neuen Schadensbericht über die Weltmeere, den Regenwald, die grassierende Armut. Aber aus all den Fakten ist keine Praxis entsprungen, die auf der Höhe der drohenden Zukunft wäre“, schreibt er in seiner Zukunftsrede, die im schmalen Band „Wer wir waren“ enthalten ist.
Viele Freunde und Wegbegleiter bemerkten in ihren Nachrufen, dass er ihrer Arbeit „neben der ihnen eigenen Dringlichkeit einen besonderen Glanz“ (Amnesty International) gegeben hat. Ihm blieb am Ende nicht mehr viel Zeit, die noch verbleibende Frist zu nutzen. Aber er bezog schon im Leben aus dem Tod „die Dringlichkeit, die ihn vor blödsinnigem Fernsehkarrierismus und tausend anderen Eitelkeitsfallen der Egomanie schützte“ (Iris Radisch). Dringlichkeit fußt auf Verstehen, Hoffnung und Identifikation, und sie zeigt sich in der Erkenntnis, sofort handeln zu müssen.
In seinem letzten Buch blickt er aus der Zukunft auf die Gegenwart, weil sie ihm ermöglicht hat, sie schärfer zu sehen: „Wenn man es genau bedenkt, ist vom Anfang aller Tage alles immer schlechter geworden. Luft und Wasser sowieso, dann die Manieren, die politischen Persönlichkeiten, der Zusammenhalt unter den Menschen, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten.“
Veränderung unserer Aufmerksamkeit, die Instabilität und Flüchtigkeit

Er befürchtet (im durchgängigen Futur II), dass wir „das Menschsein“ wohl aufgeben haben werden und uns künftig „weniger mitfühlend, weniger solidarisch, weniger sentimental“ verhalten. Der „Wesentlichkeit“, die sich bekanntlich langsam vollzieht, setzen wir die schnelle „Selbstoptimierung“ entgegen. „Wesentlich“ war Willemsens Domäne, die bis zum barocken Dichter Angelus Silesius zurückreicht („Mensch, werde wesentlich…“) und sich auch bei Gottfried Keller findet: „Mensch werde wesentlich! Denn wenn die Welt vergeht, / So fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.“
Nur aus dem Mageren, Unfertigen konnte er etwas hervorbringen
Das letzte Buch von Roger Willemsen ist ein Konzentrat, das weiterverarbeitet werden will. Es steht für das, was der französische Lyriker, Philosoph und Essayist Paul Valéry an Büchern wie an Gerichten am meisten liebte: das Magere.Er holte sich daraus nur Keime, die er in sich produktiv „weiterzüchtete“. Nur aus dem Mageren, Unfertigen konnte er etwas hervorbringen. So ist es auch mit Willemsens Zukunftsrede – sie ist nicht reich an Antworten, sondern macht aufmerksam und fordert uns auf, uns einen Überblick zu verschaffen und selbst Antworten zu finden.
„Nutzt eure Möglichkeiten.“ Das ist sein Vermächtnis an die nächste Generation und sein Plädoyer für Mitmenschlichkeit. Es macht Sinn, diesem schmalen Band ein fast 500 Seiten starkes Werk an die Seite zu stellen, damit sich die Inhalte gegenseitig durchdringen und wir einen Kompass auf der Suche nach Antworten haben. Es ist die kurze Geschichte der Gegenwart von Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 21.0 ist ein Crashkurs durch unsere Geschichte, der Mechanismen der Wahrnehmung und des Denkens. Und auch dies erinnert an Roger Willemsen: „Wir wissen so viel wie nie zuvor – und verstehen die Welt dennoch nicht.“
Es ist ein hoffnungsvolles Buch – trotzdem. Denn es nimmt dem Leser die Angst vor der Zukunft: Alles kann auch ganz anders werden als gedacht. Wer sich das immer wieder bewusst macht, ist auch fähig, die Chancen des Unvorhergesehenen zu nutzen.

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